Der Kasper

Märchen

©Märchen von René B. Brunotte

Es war einmal ein Kasper, der nutzlos in einer Spielzeugkiste lag. Keiner wollte mit ihm spielen; wahrscheinlich lag es daran, daß sein Zeug schon etwas löchrig und schmutzig war, und die Farbe, womit er angemalen war, schon ein wenig verblichen war.

Manchmal machte eins von den Kindern die Spielzeugkiste auf, um irgendetwas herauszuholen, nur der Kasper blieb liegen; aber er hatte dann wenigstens ab und zu mal etwas Licht.

Eines Tages wurde die ganze Kiste geleert, nur der Kasper blieb darin liegen; die Kiste wurde zugemacht und auf den Dachboden gebracht. Jetzt machte keiner mehr die Kiste auf, und darüber war der Kasper sehr traurig.

Als er so im Dunkeln in der Kiste lag und fast verzweifelte, dachte er, daß es sehr schön wäre, wenn er einmal in die Welt hinaus ziehen könnte. Aber so wie sein Zeug aussah, und seine Farbe? Wer wollte bei dem Aussehen schon etwas mit ihm zu tun haben? Nach einiger Zeit des Grübelns schlief er ein.

Plötzlich wurde er durch ein Geräusch wach. Jemand machte sich an dem Deckel von der Kiste zu schaffen, und auf einmal war der Deckel auf. Ein sehr helles Licht blendete ihn, und er brauchte einige Zeit, um etwas erkennen zu können. Er blickte in das Gesicht einer Fee, die über der Kiste schwebte.

elfe"Hallo, wer bist Du denn? Und was machst Du hier?" fragte der Kasper. - "Ich bin die Fee, die sich um Spielzeugfiguren überall in der Welt kümmert. Ich hatte Dich erst bei den Kindern vermutet. Aber als ich Dich nicht fand, suchte ich überall im Haus, und jetzt habe ich Dich gefunden", erwiderte die Fee. "Warum liegst Du denn hier in der Kiste herum?" - "Ich sehe ziemlich alt und schmutzig aus, und darum mögen mich die Kinder nicht mehr. Aber wenn Du eine Fee bist, kannst Du mir doch helfen," sagte der Kasper. "Ich hätte da noch einige Wünsche." - Daraufhin sagte die Fee:"Selbstverständlich kann ich Dir helfen, aber ich kann Dir nur eine begrenzte Anzahl von Wünschen erfüllen. Es dürfen aber auch nicht zu ausgefallene Wünsche sein. Um was geht es Dir denn?"

"Ich hätte gern, daß mein Zeug erneuert wird, und daß ich wieder eine schöne Farbe bekomme." - Die Fee schwang ihren Feenstab und ließ Feenstaub über den Kasper rieseln; dazu sprach sie einen Zauberspruch. Einige Augenblicke später sah der Kasper wie neu aus. Er sah an sich herunter und war sehr erfreut. "Danke liebe Fee," sagte er, "jetzt sehe ich wiedersehr schön aus. Weißt Du, ich habe mir vorgestellt, einmal durch die Welt zu ziehen, um einmal zu sehen, wie es anderswo ist. Aber leider bin ich nur eine Puppe, die sich selber nicht bewegen kann."

Die Fee erwiderte:"Da könnte ich Dir helfen. Weil Du von den Kindern verstoßen wurdest, will ich es so einrichten, daß Du Dich bewegen und laufen kannst. Dann sollst Du hinaus in die Welt ziehen, um etwas zu erleben. Aber das geht nur für einen begrenzten Zeitraum. Du mußt nach einem Jahr wieder zurück sein." - "Dafür wäre ich Dir wirklich sehr dankbar," sagte der Kasper voller Freude.

Die Fee ließ wieder ihren Stab über dem Kasper kreisen und den Feenstaub auf ihn rieseln; dazu kam jetzt ein anderer Zauberspruch. Und auf einmal fühlte der Kasper ein Reißen und Rucken in seinen kleinen Holzgliedern. Er versuchte dann aufzustehen, was ihm dann auch endlich gelang. Er machte erst in der Kiste ein paar Schritte, hielt sich aber am Rand der Kiste fest, da er zunächst noch ein paar Schwierigkeiten mit dem Gehen hatte. Das kam daher, weil er vorher noch nie so etwas gemacht hatte.

"Liebe Fee," sagte er, "ich weiß gar nicht, wie ich Dir jemals danken soll." - "Das habe ich gern getan," sagte die Fee; "Und nun werde ich Dich von diesem Dachboden nach Draußen bringen. Aber vergiß nicht, daß Du nur ein Jahr Zeit hast. Dann mußt Du wieder hier in dem Haus sein." - Ich werde darauf achten," sagte der Kasper. Dann nahm ihn die Fee in die Arme und schwebte mit ihm durch die offene Dachluke nach Draußen. Auf dem Rasen im Garten setzte sie ihn ab und verschwand.

"Mann," sagte der Kasper zu sich selbst, "ich wußte gar nicht, wie schön es hier draußen ist." Er sah sich um und bestaunte den grünen Rasen und die vielen Blumen. Dann sah er ein kleines Loch in der Hecke, schlüpfte hindurch, und machte sich auf den Weg in die weite Welt.

Zunächst ging er ein bißchen durch den Ort und sah sich alles ganz genau an. Vor einem Geschäft sah er einen großen Wagen stehen, bei dem die Ladeklappe offen war. Da er in Moment niemanden sah, sprang er auf die Ladeklappe, ging in den Laderaum und versteckte sich hinter ein paar Kartons. Er dachte so bei sich, daß es doch schneller geht, irgendwo hinzukommen, wenn er sich fahren läßt. "Zu Fuß dauert es viel zu lange, um etwas von der Welt zu sehen," sagte er zu sich selbst. Es dauerte auch gar nicht lange, da wurde die Klappe geschlossen, der Motor gestartet und der Wagen setzte sich in Bewegung. Durch das eintönige Brummen des Motors schlief der Kasper nach einiger Zeit ein.

Durch ein lautes Quiteschen wurde er wieder wach. Zuerst wußte er gar nicht, wo er war, aber dann fiel es ihm wieder ein. Da ging auch schon die Ladeklappe auf; er sah ganz still um den Karton herum, hinter dem er sich versteckt hatte. Ein großer Mann wollte gerade auf den Wagen steigen, als jemand rief:"He, Carlos, komm' doch mal her, ich muß Dir etwas zeigen!" - Der Mann ging dann weg. Der Kasper nutzte die Gelegenheit und sprang vom Wagen; schnell lief er zu einem Busch, der in der Nähe stand, und versteckte sich darin. Er sah dann den Mann wieder, der zum Wagen ging und die Kartons auslud. Dann sah der Kasper sich in der Gegend um. Alles war ihm fremd; sogar die Häuser, die er sah, sahen ganz anders aus wie zu Hause.

Nach einiger Zeit hatte der Mann die Kartons alle abgeladen; der andere Mann hatte sie auf einen kleinen Wagen, den man ziehen konnte, geladen und sie in eine große Halle gebracht. Nachdem die beiden Männer weg waren, machte sich der Kasper auf den Weg. Er wollte doch mal sehen, wo er hier gelandet war. Da die Straße am Rand mit Bäumen und Büschen bewachsen war, ging er am Rand entland; falls ein Mensch dort antlang kam, konnte er sich gut verstecken.

Nachdem er einige Zeit gegangen war, sah er in der Ferne Häuser. Das mußte die Stadt sein, dachte er sich und ging etwas schneller. Plötzlich sah er etwas in den Büschen verschwinden. Vor Schreck sprang auch er schnell in einen Busch. Vorsichtig sah er aus dem Busch hervor; er sah, daß aus dem etwa 15 Meter entfernten Busch auch jemand heraussah. Dieser Jemand schien auch Angst zu haben.

"Hallo, wer ist denn da?" rief der Kasper vorsichtig. - "Ich bin der Bajazzo", rief jemand zurück. "Bist Du ein Mensch?" - "Nein" sagte der Kasper, "ich bin eine Holzpuppe. Und Du?" - "Ich bin auch eine Holzpuppe", sagte der Bajazzo und kam aus dem Busch hervor. Auch der Kasper kam wieder aus dem Busch heraus. Er ging zu Bajazzo und betrachtete ihn aufmerksam. Eigentlich sah Bajazzo in etwa so aus wie der Kasper, nur die Kleidung sah anders aus.

bajazzo"Wie heißt Du eigentlich?" wollte Bajazzo wissen. - "Ich bin der Kasper, und ich möchte von Dir wissen, wo ich eigentlich bin". - "Du bist hier in Spanien. Und wo kommst Du her?" fragte der Bajazzo. - Kasper antwortete:"Ich komme aus Deutschland und will mich ein bißchen in der Welt umsehen." - "Und wie bist Du hergekommen? Und warum kannst Du dich bewegen und gehen, genau wie ich?" wollte Bajazzo wissen. - "Das ist eine lange Geschichte," sagte der Kasper. "Aber wenn Du Zeit hast, kann ich sie Dir erzählen." - "Oh ja," sagte Bajazzo, "erzähl' mir die Geschichte. Das muß interessant sein. Komm, wir gehen hier in die Büsche, so daß uns niemand sehen kann."

Die Beiden gingen ein Stück in die Büsche hinein und setzten sich hin. Der Kasper erzählte dann seine Geschichte; Bajazzo nickte manchmal und sagte dann:"So ähnlich erging es mir auch". Nachdem ihm dann Bajazzo auch noch seine Geschichte erzählt hatte, beschlossen die Beiden, gemeinsam durch die Welt zu ziehen.

"Komm", sagte Bajazzo, "laß' uns zum Hafen gehen; ich war gerade auf dem Weg dorthin. Dort schleichen wir uns auf ein Schiff und fahren in die weite Welt hinaus". Nachdem sie ungefähr eine Stunde gegangen waren, kamen sie zum Hafen. Der Kasper staunte:"So etwas habe ich noch nie gesehen. Das sieht ja alles sehr interessant aus". - "Ist es auch", sagte der Bajazzo, "komm mit; wir müssen uns jetzt vorsehen, damit uns keiner sieht. Zuerst müssen wir mal sehen, wo ein großes Schiff liegt, das beladen wird. Dann wird es nämlich bald losfahren."

Sie schlichen sich zwischen den Holzbuden und Holzkisten, die dort standen, entlang und sahen sich die Schiffe an. Der Kasper kam aus dem Staunen gar nicht heraus. Nach einiger Zeit sahen sie ein riesengroßes Schiff, das mit seinem Kran eine große Holzkiste an Bord hievte.

"Sie mal, Bajazzo, das Schiff fährt bestimmt bald los. Es werden schon die Sachen aufgeladen." - "Ja, das ist richtig, Kasper", antwortete Bajazzo; "Jetzt müssen wir uns nur noch an Bord schleichen und verstecken. Dann kann die große Reise bald losgehen."

Nachdem die Leute mit dem Beladen des Schiffes fertig waren, gingen sie weg. "Jetzt aber los Kasper", rief Bajazzo; "siehst Du dort die Treppe, die auf das Schiff führt. Dort müssen wir jetzt schnell rauf. Aber sei vorsichtig, damit Du nicht gesehen wirst." - "Alles klar", sagte Kasper; "Nichts wie los". - Die Beiden sahen sich noch einmal um und liefen dann so schnell sie konnten zur Treppe, flitzten diese rauf und schon waren sie an Bord. Eilig suchten sie sich ein versteck. Auf dem Deck stand eine große Holzkiste, die an einer Seite ein kleines Loch hatte. Dort liefen sie hin und zwängten sich durch das Loch in die Kiste hinein.

"Puh, das hat aber gut geklappt", freute sich der Kasper. - "Ja", sagte der Bajazzo, "keiner hat etwas gemerkt." Sie setzten sich erst mal hin und verschnauften. Dann fingen sie an, sich in der Kiste umzusehen. Es waren viele interessante Sachen darin, sogar viele kleine Holzkisten. Plötzlich blieben sie vor Schreck stehen. Was war das für ein Geräusch gewesen, das sie hörten?

"Was war das?" fragte der Kasper ängstlich. - "Weiß ich auch nicht," sagte Bajazzo; "sei mal leise, vielleicht können wir noch etwas hören." Angestrengt lauschten sie. Da hörten sie in der einen Ecke der Kiste wieder etwas. Es war, als hätte dort etwas gepiept; aber dann war das Geräusch wieder weg. Kurz danach hörte man es knacken und schmatzen. Die Beiden bekamen Angst und versteckten sich schnell hinter einer der kleineren Holzkisten. "Hoffentlich findet uns hier keiner und tut uns etwas," sagte der Bajazzo zum Kasper. - "Pst," sagte der Kasper ganz leise, "sonst hört uns noch jemand".

Nach einiger Zeit hörten die Geräusche auf. Aber kurz danach war wieder etwas zu hören. Es war wie ein Schmatzen und Reiben. Sie wußten beide nicht, was sie davon halten sollten; aber sie verhielten sich weiterhin mucksmäuschenstill. Dann waren auch diese Geräusche vorbei; dafür hörte man dann aber Tappsen; es war manchmal kurz weg, dann aber wieder da. Es kam der Kiste, hinter der die Beiden sich versteckten, immer näher. Die Beiden zitterten wie Espenlaub und hielten sich aneinander fest.

Plötzlich sahen sie im Dunkeln zwei glühende Punkte, die immer näher kamen. Es hörte sich dann an, als ob etwas am Schnuppern war. Die Beiden blieben ganz still sitzen und bewegten sich nicht. Die glühenden Punkte waren auf einmal genau vor ihnen. Irgendetwas kitzelte ihnen dann im Gesicht und ein heißer Atem war zu fühlen. Kasper und Bajazzo hielten die Augen geschlossen. Sie wollten gar nicht wissen, was an ihnen herumschnupperte; sie dachten beide nur, daß dieses Etwas ganz schnell wieder weg sein sollte.

leo"Hallo," sagte dieses Etwas auf einmal. "Kann es sein, daß ihr Angst habt? Das braucht ihr aber nicht. Ich bin Leo, der Kater, und ich fresse nur Mäuse, Ratten und manchmal auch einen Vogel. Ich werde euch nichts tun." - Zuerst machte der Kasper seine Augen auf, und dann der Bajazzo. "Puh," sagte Kasper, "ich dachte schon, jetzt ist es aus mit mir. Wir konnten Dich im Dunkeln nicht sehen, und wußten darum auch nicht, was da auf uns zukommt." - Ja," sagte der Bajazzo, "Du hast uns einen fürchterlichen Schrecken eingejagt. Bin froh, daß alles so gut abgelaufen ist."

"Naja," sagte Leo, "ich hatte da ein kleines Geräusch gehört. Und da ich hier auf dem Schiff bin, um Mäuse zu jagen, dachte ich, daß hier ein paar Mäuse in der Ecke wären. Darum habe ich mich auch so leise rangeschlichen. Aber sagt mal, was wollt ihr denn eigentlich hier auf dem Schiff?" - "Wir wollen etwas von der Welt sehen," sagte der Kasper. "Ich komme schon von Weit her, und ich habe den Bajazzo getroffen. Wir wollen jetzt zusammen reisen." - Bajazzo erklärte weiter: "Da ich schon ein bißchen mehr von der Welt gesehen habe wie Kasper, will ich ihm ein bißchen behilflich sein, herumzureisen. Ich war nämlich vorher in einem Zirkus. Aber das hat mir nicht mehr gefallen und ich bin abgehauen."

"Und warum bist Du hier?" fragte Leo den Kasper. - "Man hat mich wohl nicht mehr gebraucht, und mich dann in eine Holzkiste gesperrt. Eines Nachts kam dann eine Fee und hat mir geholfen. Ich habe ein Jahr Zeit bekommen um mich auf der Welt umzusehen." - "Wenn ihr nichts dagegen habt, werde ich mich euch anschließen," sagte Leo der Kater. "Ich habe nämlich eigentlich gar keine Lust mehr, immer nur auf diesem Schiff herumzufahren. Mit der Zeit wird es einem langweilig." - Kasper und Bajazzo fanden, daß Leos Vorschlag ganz gut war. Denn er sah kräftig aus und konnte ihnen bestimmt behilflich sein und sie beschützen.

Das Schiff hatte inzwischen abgelegt und befand sich jetzt auf See. Nachts gingen die drei an Deck und sahen sich das Meer an. Am Tag mußten sie sich verstecken, da an Bord ein reges Treiben herrschte. Sie fuhren Tag für Tag und dachten, das die Reise nie enden würde. Kasper und Bajazzo brauchten ja nichts zu essen, da sie ja Holzpuppen waren; aber Leo brauchte immer etwas zu essen. Zum Glück gab es genug Mäuse an Bord, denn das Schiff hatte auch Getreide geladen.

Nachdem sie nun für sie eine Ewigkeit unterwegs gewesen waren, liefen sie endlich in einen Hafen ein. Es war genau zur Naachtzeit, so daß das Schiff am Kai erstmal nur vor Anker ging. Das Entladen würde am nächsten Tag stattfinden. So konnten sich die Drei ungesehen von Bord schleichen und den Hafen verlassen.

"Weiß einer von Euch, wo wir eigentlich sind" fragte der Kasper. - Bajazzo sagte: "Ja, hier war ich vor langer Zeit schon einmal mit einem Zirkus, das ist Mexiko." - Leo meinte:"Ich bin ja auch schon viel rumgekommen, aber in Mexiko war ich noch nicht." - Und der Kasper sagte:"Von Mexiko habe ich noch nie gehört".

In der einen Straße kamen sie an einem Plakat vorbei, worauf ein Zirkus abgebildet war. "Seht mal dort, das Plakat", rief Bajazzo, "so wie das aussieht, ist es genau der Zirkus, bei dem ich damals war. Ich finde, den suchen wir hier mal und schleichen uns dann zur Vorstellung rein und gucken zu. Da könnt ihr dann mal sehen, was so alles in einem Zirkus passiert". - "Oh ja," sagte der Kasper, "das würde ich zu gern einmal sehen. Und Du Leo, würde Dir das auch gefallen?" - "Naja," sagte Leo, "warum nicht; vielleicht ist es ganz unterhaltsam."

Und so machten sich die Drei auf den Weg, den Zirkus zu suchen.

 

Fortsetzung folgt